Wenn unsere Autorin Hanna Begić öffentlich sprechen muss, kriegt sie alle Zustände. Sie fragte nach, was sie dagegen tun kann.
Wer mal in den Genuss kommen sollte, Kindheitsfotos von mir in die Hände zu kriegen, wird ein Mädchen sehen, das gerne im Mittelpunkt steht. Ich war der Star in meiner Welt, versuchte, stets das Wort zu ergreifen und alle Augen auf mich zu lenken. Doch das änderte sich schlagartig, als die Pubertät losging. Kinder sind bekanntlich grausam, und mit zunehmendem Alter verletzten mich die Worte und Meinungen der Kinder um mich herum immer mehr. Meine Familie ging leider auch nicht mehr so behutsam mit mir um wie davor. Was ich sagte und was ich tat, wurde nun immer öfter sarkastisch kommentiert. Schamgefühle nisteten sich in meiner Psyche ein und ich hatte keinerlei Bedürfnis mehr, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken – im Gegenteil.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als mich die Redeangst packte. Die Episode klingt zwar wie ein Hollywood-Klischee, doch sie hat sich wirklich so zugetragen. Ich war 15 Jahre alt und musste im Unterricht fünf – fünf! – Sätze von meinem Laptop laut ablesen. Ich musste nicht einmal frei sprechen, einfach nur diese fünf einfachen Sätze vorlesen. Noch bevor ich das erste Wort ausgesprochen hatte, spürte ich kalten Schweiß auf meinem Gesicht. Und nichts ging mehr. Meine ganze mentale Kraft wandte ich dafür auf, die Wirklichkeit wegzuleugnen, eine Zeitspalte aufzureißen und hindurchzuschlüpfen. Ich schnappte nach Luft. Kein Satz kam. Bis die Lehrerin mich erlöste.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das längst nur noch eine Erinnerung ist. Aber jetzt, sieben Jahre später, habe ich immer noch Schwierigkeiten mit dem öffentlichen Reden. Das Vorlesen eines Textes habe ich zwar mittlerweile perfektioniert, aber sobald ich vor Publikum frei reden muss, blockiert mein Hirn. Zuletzt passierte mir das bei einer Podiumsdiskussion, zu der ich eingeladen war, um über ein Thema zu sprechen, das mir am Herzen liegt. Bei dem ich mich wirklich gut auskenne. Es strömte der Schweiß und die Stimme versagte. Ich fragte mich also: Wieso stellt für mich das Sprechen vor Publikum eine solch große Hürde dar? Es muss doch einen Grund dafür geben. Aber kann man etwas dagegen tun? Kann man ein so tiefsitzendes Gefühl wie Angst wegtrainieren?
KAMPF ODER FLUCHT
Wie jede Angehörige der Gen Z, die eine Frage hat, wandte ich mich zuerst ans Netz und fand prompt zumindest Trost in der Tatsache, dass ich mit meinem Problem nicht alleine bin. Laut einer von Statista Österreich 2014 durchgeführten Umfrage zählt das öffentliche Reden zu den zehn größten Ängsten der Österreicher:innen. Die Wissenschaft bezeichnet es als Logophobie. Ich las weiter: Wenn man sich einer Menschenmasse zuwenden muss, versetzt das den Körper in Stressbereitschaft, auch wenn man sich nicht in einer realen Gefahr befindet. Es treten dann Symptome auf, die ich nur zu gut aus eigener Erfahrung kenne: Schwitzen, Hyperventilieren, eine blockierte Stimme – und wenn dann doch etwas rauskommt, ist es kaum hörbar. Die klassische Kampf-oder-Flucht-Reaktion auf akute Gefahrensituationen. Man sollte Informationen von der ersten Google-Seite aber natürlich nie für bare Münze nehmen, also nahm ich Kontakt mit einem Profi auf. Ich wollte wissen, was da mit mir geschah. Und mit so vielen anderen Menschen. Dass einen etwas so Banales so aus der Bahn wirft, in einen echten Angstzustand versetzt.
„Der Mensch hat Angst vor Situationen, in denen er bewertet wird, weil da auch eine Möglichkeit mitschwingt, abgewiesen oder nicht akzeptiert zu werden. Er macht sich Gedanken darüber, wie das Gegenüber ihn wahrnimmt“, sagt die Wiener Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin Mariam Rahman. Denn: Jeder soziale Raum ist auch ein Ort, wo man andere beurteilt. In einer polarisierten Welt, in der jedes einzelne Merkmal eines Individuums seziert wird, macht man sich für das Gegenüber angreifbar. Wenn man dann noch Wissen vermitteln muss, wird es knifflig. Bei einem Vortrag oder einer Podiumsdiskussion sind gerade die ersten Sekunden wichtig, um einen guten Eindruck zu machen. Als Antwort auf die Bewertungssituation schüttet der menschliche Körper Stresshormone aus wie Adrenalin und Noradrenalin, erklärt Rahman. So weit, so klar. Sind dann Menschen, die beim öffentlichen Reden nicht ins Schwitzen kommen, furchtlos?
DIE STIMME WIEDERFINDEN
Ängste sind mit individuellen Erfahrungen verbunden. Mariam Rahman: „Ich sehe die Ursache für viele unserer Ängste in unserer Vergangenheit.“ Konkret nennt sie Mobbing an der Schule oder – und hier wurde ich hellhörig – es wurde einem im eigenen Elternhaus verweigert, zu Wort zu kommen, oder man wurde nicht ganz ernst genommen. Irgendwo trifft das schon auf mich zu. Ich bin in einem Balkan-Haushalt aufgewachsen. Da als Kind gehört zu werden ist schwer. Meist herrscht das Prinzip: Die Stärkere oder auch der Älteste gewinnt. Als jüngstes Kind und vor allem als Tochter hat man gar kein Sagen. „Mit diesen Erfahrungen aufzuwachsen kann dazu führen, dass man später im Leben seine eigene Meinung nicht äußern beziehungsweise nicht vor einer Gruppe von Menschen reden will“, so Rahman. Und doch soll man das tun, denn die Wissenschaft hat herausgefunden: Wenn Menschen das öffentliche Reden vermeiden, wird es ihnen immer schwerer fallen, ihre Anliegen und Bedürfnisse zu verwirklichen. Man muss sich also aktiv bemühen, wieder zur eigenen Stimme zu finden.
„Oft machen uns allein schon die Symptome nervös. Es ist daher wichtig zu wissen, dass dies nur körperliche Reaktionen sind“, sagt Rahman. Sie rät zu Muskel- und Atemübungen, um diese Symptome zu bekämpfen. Es gibt aber auch andere Tricks, um mit dem Stress einer öffentlichen Rede fertig zu werden. Man könnte sich zum Beispiel vor Augen führen, dass die meisten Menschen, die vor einem stehen, ebenso Redeangst haben und den Stress, den man gerade erlebt, nachempfinden können. Geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid. Man könnte auch freundliche Gesichter im Publikum suchen und sich auf diese konzentrieren. Ratsam ist es auf je- den Fall, sich gut vorzubereiten, auch auf den worst case, nämlich eine totale Blockade. Wenn all das nicht hilft, sollte man auch professionelle Hilfe in Erwägung ziehen.
Meine eigene Redeangst ist noch nicht dermaßen ausgeprägt, dass ich externe Hilfe in Anspruch nehmen müsste. Glaube ich. Aber ich habe aus meinem Gespräch mit Mariam Rahman auf jeden Fall eine wichtige Lektion mitgenommen: Alte Denkmuster, die ich mir über die Zeit angeeignet habe, neu zu strukturieren. Meine Stimme will gehört werden, auch wenn manche Ohren für sie kein Gehör haben. Leise will ich nicht mehr sein.