Wie würde ein Jenseitsbezug das unternehmerische Handeln beeinflussen? Mit Ali Aslan Gümüşay haben wir uns über Ethik in der Wirtschaft unterhalten. Und darüber, ob in den Unternehmen der nötige Wertekompass fehlt, um gegen die zerstörerischen Tendenzen unseres Wirtschaftssystems wirklich etwas auszurichten.
Interview: Jana Treffler Fotos: Hiba Khelifi
Herr Gümüşay, wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich wissenschaftlich mit Wirtschaft und Religion zu beschäftigen?
Für mich ist die Wissenschaft das Privileg, die Fragen zu stellen, die ich möchte. Ich arbeitete früher als Unternehmensberater und damals wunderte ich mich, dass bereits viel über Politik und Macht in der Wirtschaft geredet, aber das Verhältnis von Religion und Management fast nicht behandelt wird. Der Glaube ist vielleicht das letzte Tabuthema in der Wirtschaft. Was mich dabei interessiert, ist, wie Wertehaltungen in Organisationen hineinwirken. Die Religion ist für mich eine solche Werte- und Praxisquelle, die ein Unternehmen prägen kann. Darum finde ich es so faszinierend, dass sie wissenschaftlich übersehen wird.
Was wissenschaftlich schon untersucht wurde, ist der Einfluss des Calvinismus und der protestantischen Ethik auf die Entstehung des Kapitalismus. Könnte man hier sagen, dass Religion den Kapitalismus stützt?
Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Wenn man davon ausgeht, dass eine Verwirklichung im Diesseits ein Ausdruck von religiöser Stärke ist, bestärkt das diesen Wachstumsfokus. Es gibt aber auch alternative Modelle, die sich vom Diesseits wegbewegen und dem dann widersprechen würden. Das Zusammenspiel von Religion und Wirtschaft variiert und ist manchmal unterstützend und manchmal eher widersprechend. Nicht selten wird die Religion für das eine oder das andere instrumentalisiert.
Was könnte man aus muslimischer Perspektive dem aktuell herrschenden zerstörerischen Kapitalismus entgegensetzen?
Die verschiedenen Ausprägungen des Islam bieten Alternativen des Wirtschaftens an. Ganz konkret kennen wir etwa Islamic Finance, wovon man zurzeit immer wieder hört. Das Besondere daran ist, dass es versucht, die Finanzwirtschaft nicht von der Gesamtwirtschaft zu entkoppeln. Denn im Grunde kann ich in der Finanzwelt, wie sie weltweit dominiert, reich werden, während es zugleich den Menschen immer schlechter geht. Einem islamischen Wirtschaftsverständnis folgend wären die beiden Aspekte aneinander gekoppelt, etwa durch das Zinsverbot. Aber noch wichtiger und grundsätzlicher bietet der Islam wie andere Religionen auch einen Wertekanon. Und dieser Wertekanon kann als Korrektiv wirken, er kann unser Verhalten im System prägen. Ich habe viele Interviews geführt mit Führungskräften und Unternehmer:innen, die sagen, das Diesseits endet mit einem Doppelpunkt, im Jenseits geht es weiter. Oder: Wir kochen hier, und gegessen wird im Himmel. Dieser Jenseitsbezug setzt die Fokussierung vom Hier auf die Zukunft und korrigiert dadurch vielleicht auch den Wunsch nach immer mehr, immer weiter, immer schneller in der Gegenwart. Das heißt, dass Religionen wie eben auch der Islam ein Bewusstsein schaffen können, weniger und insbesondere anders zu konsumieren, zum Beispiel ganz einfach weniger aus der Natur zu entnehmen. An diesem Bewusstseinswandel und diesem bewussten Sein kann der Islam auf jeden Fall mitwirken. Und sollte er auch, weil er ja die Grundfragen nach dem Sinn des Lebens stellt. Und die Frage, wie ich leben möchte, beinhaltet auch die Frage, wie ich wirtschaften möchte.
Tragen Modelle wie Islamic Finance wirklich zu einem substanziellen Wandel bei oder geht es vielleicht nur darum, mit gutem Gewissen an den herkömmlichen Prozessen des Investierens und Profitmachens teilnehmen zu können?
Es gibt viele Modelle, bei denen man sich fragen muss: Ist das ein Tropfen Zamzam-Wasser auf den heißen Stein? Ist es Weihwasser, umwabert von einer dreckigen Öllache? Da gibt es viel Kritik, die oft berechtigt ist. In der Praxis bleibt vieles in einer Grauzone. Schaut man sich allerdings die Grundidee hinter Islamic Finance an, sieht man schon den Mehrwert. Zum Beispiel gibt es da beim Kauf von Immobilien keine Entkopplung von der Finanz- und Marktwirtschaft. Jetzt läuft es so, dass die Bank einen Kredit zum Hauskauf gibt und dafür von der Kundin oder vom Kunden Zinsen verlangt. Bei Islamic Finance würde die Bank das Haus kaufen und für einen Mehrbetrag weiterverkaufen. Da könnte man jetzt sagen, das ist doch das Gleiche, wie Zinsen zu verlangen. Eigentlich bedeutet das aber, dass sich die Bank am Risiko beteiligt, also mit im Boot sitzt. Außerdem könnte sie sich so nicht über andere Produkte, wie etwa Derivate, von dem eigentlichen Produkt wegbewegen, sodass immer, wenn ein Geschäft stattfindet, ein wirklicher materieller Wert dahintersteht. Insofern sind das durchaus Praktiken, die anders sind, aber nicht unbedingt anders gelebt werden.
Könnten Sie ein Beispiel für so eine Grauzone nennen?
Leute aus der Islamic-Finance-Welt reden immer wieder von Islamic Compliance. Und Compliance ist genau das: Es gibt die Regeln des Islam, nach denen versucht man zu handeln. Was ich aber betonen will, ist, dass wir das Grundverständnis ändern müssen – von Islamic Compliance zu einem Islamic Commitment. Es geht dann nicht darum, dass ich die Regeln gerade so noch einhalte, sondern dass ich den Werten entsprechend handle. Nehmen wir als Beispiel das Gebet. Wenn ich das Mittagsgebet, das eigentlich vielleicht zehn Minuten dauert, in zwei Minuten durchziehen kann, habe ich alles konform gemacht. Das wäre für mich „Compliance“. Aber habe ich eigentlich den wahren Kern des Gebets erlebt und verstanden? Und da würde ich sagen: nein. Wir bräuchten also ein „Commitment“. Manchmal sind dadurch meines Erachtens die Ethikbanken, die zwar keine Islamic Compliance verfolgen, sogar mehr „islamically committed“. Die GLS Gemeinschaftsbank oder die Triodos Bank machen unglaublich tolle Sachen im Bereich Nachhaltigkeit oder bei den Gehältern und der Einbeziehung ihrer Mitarbeiter:innen. Sie nutzen aber natürlich Zinssysteme und sind dahingehend nicht „Islam-compliant“. Trotzdem ist meines Erachtens ihr Wertekanon „islamischer“ als der mancher islamischer Banken.
Andere kapitalismuskritische Ansätze oder Bewegungen, die zum Beispiel marxistisch ausgerichtet sind, thematisieren sehr stark die Eigentums verhältnisse. Ist das auch ein Teil von Islamic Commitment?
Weil Religionen immer und überall gelten sollen, schreiben sie nicht unbedingt ein bestimmtes System vor, sondern geben eher Rahmenbedingungen für Systeme. Deswegen glaube ich nicht, dass es das islamische Wirtschaftssystem gibt. Man kann nicht behaupten: „Der Islam sagt, Kapitalismus ist das falsche Wirtschaftssystem, es muss Sozialismus sein.“ Man kann eher eine islamische Perspektive auf all diese Wirtschaftssysteme haben. Wenn man sich dann die Eigentumsfrage ansieht, wäre eine islamische Sichtweise auf jeden Fall kritisch in Bezug auf Ungerechtigkeit. Im Islam haben wir mit der Zakah im Grunde eine Vermögenssteuer, was zeigt, dass es nicht nur um das Einkommen geht, sondern eben auch um das Vermögen. Damit geht das Verständnis einher, dass Vermögen verpflichtet. Die Zakah ist also nicht nur eine nette Gabe an die Armen, sondern eine Reinigung des Geldes, das man besitzt. Es geht dabei nicht um Eigentumsverzicht, sondern um die Systemfrage. Das System muss gerecht sein und Armut muss bekämpft werden. Es muss klare Regeln geben, wie mit Armut umgegangen wird. Es gibt im Islam auch ein Verständnis von Genügsamkeit – dass weniger mehr ist und man nicht so viel braucht, wie man meint. Wenn man all das zusammenfügt, könnte ich mir vorstellen, dass Menschen weniger Eigentum anhäufen oder es zumindest gerechter verteilen. All das würde ich gutheißen. Hierbei kann Religion hilfreich sein. Wir versuchen natürlich in einer Gesellschaft sehr viel zu regulieren, und das ist auch wichtig, aber manche Dinge sind schwer zu regulieren – und Religion kann Menschen intrinsisch dazu bewegen, genau solche Ungerechtigkeiten zu sehen und dagegen anzugehen.
Was hindert Unternehmer:innen daran, nach dieser intrinsischen Motivation wertegeleitet zu handeln?
Wir haben seit der Moderne unsere Gesellschaften in Teilsysteme aufgeteilt und deren jeweilige Logiken optimiert. Und das ist fatal. Wenn ich mit christlichen Führungskräften spreche, reden sie von der sogenannten „Sunday-Monday-Divide“, der Sonntag-Montag-Spaltung. Sonntags bin ich der gute Christ, montags der Kapitalist. Aufs Islamische übertragen wäre das vielleicht die Donnerstag-Freitag-Spaltung. Warum aber diese Trennung? Religion, Familie und Gemeinschaft können gelebte Werte sein, die das alltägliche Handeln holistisch zusammenführen, donnerstags genauso wie freitags. Da müsste ein Bewusstseinswandel stattfinden.
Sie beschäftigen sich viel mit einem möglichen Lösungsansatz dazu, nämlich „Social Entrepreneurship“, also sozialem Unternehmertum. Was kann man sich darunter vorstellen?
Soziales Unternehmertum ist eine Symbiose des Wirtschaftens und des Sozialen. Es geht also um die Zusammenführung zweier Bereiche, die im Moment oft getrennt werden – des Profits und der eigenen Werte. Was auch immer der eigene Wertekanon ist, ob zum Beispiel ökologisch oder sozial, er wird im Sozialen Unternehmertum inkludiert. Haltungen, die wir im täglichen Leben haben, prägen uns. Läuft das Wirtschaften davon getrennt ab, spaltet uns das im Endeffekt selbst als Individuen. Natürlich verkompliziert die Verknüpfung von Werten und Profiten konventionelles Unternehmertun, in dem das Ergebnis simpel und zahlenbasiert ist. Wenn du beispielsweise als Unternehmer:in zwei Millionen Euro machst und ich eine, hast du doppelt so viel Erfolg wie ich. Das ist bei einem Sozialen Unternehmen natürlich nicht so einfach zu messen. Wenn ich tausend Bäume pflanze und du hundert Menschenleben rettest, wer war erfolgreicher? Man kann nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Und paradoxerweise wird dadurch, also durch die Unvergleichbarkeit, die Vielfalt unternehmerischen Handelns gestärkt und bereichert.
Sie bringen dann auch noch die islamische Komponente ins Spiel. Wie sollte also ein muslimisches Soziales Unternehmen aussehen?
Da spreche ich von einem Drei-Säulen-Modell. Die erste Säule ist die Wertschaffung, also die des Wirtschaftens. Die zweite Säule steht für die Werteschaffung, das betrifft Soziales und Ökologisches. Es gibt viele Referenzen im Koran und in den Hadithen, wie der Prophet Muhammad sozial und ökologisch gehandelt hat. Und dann gibt es die dritte Säule, das Metaphysische. Islamisches Unternehmertum hat also auch diese dritte Dimension – Gott näher zu kommen. Wobei natürlich Säule eins und zwei auch stark von islamischen Werten geprägt sind. Daraus ergibt sich eine Symbiose, die ich Wor(k)ship nenne. Diese praktische Symbiose bedeutet, dass ein:e Unternehmer:in gleichzeitig unternehmerisch tätig ist, etwas Gutes tut und Gott näher kommt.
Steht Soziales Unternehmertum nicht auch dafür, die Lösung sozialer Probleme zunehmend zu privatisieren? Während für die großen Herausforderungen unserer Zeit, die ja politische Fragen sind, nur noch technische Lösungen gesucht werden?
Ich glaube, unternehmerische Arbeit und Technik sind ein Mittel, aber können nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Der Staat soll sich nicht zurücklehnen, nur weil Soziale Unternehmer:innen in einem Bereich tätig werden. Auch ist die Kritik berechtigt, dass die Privatisierung zu einer Ökonomisierung von sozialen Problemen führen kann. Soziales Unternehmertum soll dem Staat keine Aufgaben wegnehmen, sondern wenn schon, dann eher dem konventionellen Unternehmertum.
Wie kann man als Unternehmer:in im Kontext des aktuellen Wirtschaftssystems mit seinen Auswirkungen auf die Umwelt und seiner Ausbeutung von Menschen überhaupt ethisch handeln?
Das ist bei den verschiedenen Regeln und Normen, denen Unternehmen innerhalb eines Systems unterworfen sind, nicht einfach. Unternehmen müssen sich ihrer Rolle zunächst bewusst werden. Bewusstsein ist dabei sicherlich ein zentraler Faktor, denn es gibt einen Spielraum, die Dinge zu überdenken. Der erste Schritt wäre, sich zu fragen, was das Ziel des Unternehmens ist. Und leider ist es heute so, dass viele von der Friedman-Doktrin geprägt sind, die da heißt „The business of business is business“. Unternehmen müssen lernen, das in Frage zu stellen. Der nächste Schritt ist ein Aushandlungsprozess, was das für die Praxis bedeutet. Sobald das Ziel, Gutes zu tun, festgelegt ist, gibt es auch innerhalb des Unternehmens unterschiedliche Meinungen darüber, was das sein soll. Das ist komplex, aber auch wunderschön, wenn man es schafft, diese verschiedenen Werte unter einen Hut zu kriegen.
Bei kleinen Unternehmen kann ich mir das gut vorstellen, aber was ist mit den multinationalen Unternehmen, die zum Beispiel in China produzieren, wo Uigur:innen Zwangsarbeit leisten müssen? Welche Strategien gibt es da?
Auch wenn wir unterschiedliche Werte haben, sollte es natürlich „Minimalwerte“ geben, etwa dass wir gegen Sklavenarbeit sind und für gute Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern. Ein Ansatz wäre die Wirkungsmessung durch „Impact Valuation“. Damit sollen Werte und Nachhaltigkeit messbar gemacht werden. Wir brauchen auf jeden Fall eine bessere Regulierung von und Freiraum für Soziales Unternehmertum. Gleichfalls brauchen Unternehmen ein besseres Verständnis dafür, welche externen Folgen ihr Handeln hat. Diese sogenannten Externalitäten müssen also eingepreist werden. Wenn ein Unternehmen seine Angestellten schlecht behandelt und diese dadurch höhere Kosten bei der Krankenversicherung haben, muss sich das im Preis des Produkts oder des Services niederschlagen. Also erst wenn ich als Unternehmer:in die Externalitäten einpreise, die mein Tun verursacht, kann ich ans nachhaltige Maximieren denken – und selbst da sollte man den Maximierungswahn hinterfragen. Aktuell ist es aber so, dass Unternehmen die natürlichen Ressourcen nutzen und damit Profit machen. Dass dabei etwa mit Chemikalien verseuchtes Wasser zurückbleibt, unterm Strich also das Unternehmen der ganzen Gesellschaft ein riesiges Verlustgeschäft beschert, wird nicht konsequent berücksichtigt.
Ist es nicht auch gefährlich, allem einen Preis zu geben, womöglich bis hin zum menschlichen Leben?
Absolut! Es gibt Bestrebungen, die Lebensversicherung zu nutzen, um Menschenleben einzupreisen. Das führt dann aber dazu, dass Versicherungen in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Preise haben und plötzlich ist das Menschenleben in Deutschland x-mal so viel Wert wie in Ghana. Da ist diese Metrik dann einfach falsch. Aber auch wenn man sagt, jedes Menschenleben ist gleich viel wert, wie hoch soll der Betrag dann sein? Es gibt diesen schönen Satz: „Not everything that counts can be counted, and not everything that can be counted counts.“ Wir müssen auch nicht alles einpreisen, aber wir müssen die Externalitäten inkludieren, allein schon, um ein Bewusstsein für die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf die Umwelt zu schaffen. Wie wir das genau tun, daran müssen wir noch arbeiten.
Sie beschäftigen sich auch mit der Digitalisierung. Glauben Sie, dass Künstliche Intelligenz (KI) uns helfen kann, die großen Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, zu lösen?
Also zunächst einmal schaffen KI und andere Technologien selbst neue Herausforderungen, die wir wiederum lösen müssen. Diskriminierung ist ein Riesenthema in der KI, weil diese oft von weißen Männern im Westen programmiert wird, was dazu führt, dass sich in ihr – bewusst oder unbewusst – bestimmte Vorurteile fortsetzen. Autonome Autos, die von KI gesteuert werden, mögen so Schwarze Fußgänger:innen eher übersehen, weil die Datengrundlage für die Erkennung von Menschen vor allem mit Bildern von weißen Menschen erstellt wurde. In Technologien sind immer auch Machtverhältnisse eingeschrieben. Ein anderes Beispiel dafür sind etwa Crashtest-Dummys: Diese sind einem durchschnittlichen männlichen Körper nachempfunden. Dadurch sind Frauen, deren Physis im Durchschnitt ein bisschen anders ist, benachteiligt, weil ihre Anatomie in den Sicherheitskonzepten der Autoindustrie weniger berücksichtigt wird. Ein weiterer Kritikpunkt an KI ist ihr enorm hoher Energiekonsum und ihr Bedarf an Mineralien. Da ist KI alles andere als „künstlich“, da wird sie sehr materiell, sehr ressourcenfressend. Wir brauchen also nicht nur Nachhaltigkeit durch KI, sondern zunächst einmal eine nachhaltige KI. Was wir auch wissen, ist, dass durch technische Effizienzsteigerungen Reboundeffekte entstehen. Das bedeutet: Wir machen Dinge effizienter – nutzen sie deswegen aber dann auch mehr. Ein Beispiel dafür sind E-Mails. Was passierte in den 2000er Jahren? Man musste keine Briefe mehr zur Post bringen, aber dafür schrieben alle viel, viel mehr E-Mails. Nach diesem langen vorangestellten Aber möchte ich bewusst auch positive Aspekte nennen: Im Bereich der Arbeit könnte KI langweilige, einfache Aufgaben übernehmen, sodass Menschen sich auf die interessanteren fokussieren können. Wenn man das gut macht, dann ist der Service besser, die Arbeit besser und effizienter. KI wird auch im Agrarbereich genutzt, zum Beispiel um Schädlingsbefall zu identifizieren, um dann frühzeitig zu reagieren. Oder in der Medizin zur Mustererkennung, etwa von Krebs. Also: Ja, Künstliche Intelligenz hat ein großes Potenzial, aber birgt auch sehr viele Gefahren. Es ist kein Heilsbringer, aber sicherlich ein Werkzeug, das wir mit nutzen werden. Daher ist es wichtig, KI jetzt mitzugestalten, gewissermaßen die Gebrauchsanweisung zu verfassen.
Kommen wir zum Schluss zur Frage nach unserer eigenen Verantwortung als Individuen, etwa als Konsument:innen. Was können wir bewirken?
Konsument:innen müssen sich auf ihren eigenen Wertekanon besinnen. Wir müssen zum Beispiel verstehen, was es eigentlich heißt, islamisch zu konsumieren. Leider läuft es oft so ab, dass bestimmte Regeln befolgt werden, wie nur Halal-Fleisch, kein Schwein, keinen Alkohol – was ja alles richtig ist, aber eben nur der Mindeststandard. Wenn wir beim Fleisch bleiben: Der Halal-Döner scheint gegenüber dem nachhaltigen Nicht-Halal-Fleisch aus dem Bioladen islamischer. Wie beim Bankwesen mag das formal auch so sein. Aber wir müssen das Konzept von halal weiterdenken. Biofleisch ist auch eine Komponente, islamisch richtig zu konsumieren. Weniger Fleischkonsum an sich wäre meines Erachtens ebenso islamisch. Konsument:innen sind da am Hebel der Veränderung, und die eigenen Werte können sich im Konsum widerspiegeln: mehr bio, weniger Fleisch, mehr regional. Denn auch regionale Lebensmittelproduktion wird im Islam sehr wertgeschätzt, weil wir eine Verantwortung für unser unmittelbares Umfeld haben. Wie man konsumiert, hat nicht zuletzt Implikationen auf einen selbst. Und auch hier gibt es eine islamische Pflicht: auf sich und seinen Körper zu achten. Wir sehen also, es schließt sich der Kreis, in dem das Individuum, die Gesellschaft und die Natur miteinander verwoben sind.
Ali Aslan Gümüşay ist Forschungsgruppenleiter Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) sowie Habilitand an der Universität Hamburg. Er studierte Management an der Saïd Business School der Universität Oxford, wo er auch promoviert hat. Aktuell ist er Fellow an der Universität Cambridge. Gümüşay arbeitete außerdem als Berater bei der Boston Consulting Group.