Opferschutzeinrichtungen am Limit, kein Vertrauen zur Polizei, fehlendes Wissen bei Richter:innen – es hapert beim Gewaltschutz für Frauen in Österreich. Dabei liegen die Lösungen längst auf dem Tisch, sagt die Rechtsanwältin Sonja Aziz.
Interview: Soma Ahmad Fotos: Diva Shukoor
Medien berichten verstärkt über Gewalt gegen Frauen, was bei der in Österreich seit mehreren Jahren steigenden Zahl von durch Männer getöteten Frauen nicht verwundert. Allerdings ist gerade bei geschlechtsspezifischer Gewalt immer wieder die Rede von „Beziehungsdramen“ und nicht von Femiziden.
Wir sehen in der medialen Berichterstattung, dass Gewalt gegen Frauen verharmlost wird, indem ein Femizid als „Eifersuchtsdrama“ oder „Beziehungsstreit“ bezeichnet wird. Derartige Formulierungen verschleiern den Gewaltaspekt und die dahinterstehenden Dynamiken. Außerdem suggerieren sie eine Mitschuld des Opfers. Frauen werden ermordet, weil sie Frauen sind. Wenn wir dieses Problem an der Wurzel packen wollen, dann müssen wir endlich damit anfangen, Gewalt, die vorwiegend Frauen betrifft, beim Namen zu nennen.
Welche Art von Gewalt meinen Sie?
Das 2011 vom Europarat beschlossene Übereinkommen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, besser bekannt als Istanbul-Konvention, verpflichtet uns, jede Form von Gewalt gegen Frauen zu ahnden und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Das beinhaltet auch psychische Gewalt wie Erniedrigungen, Demütigungen oder Drohungen. Vielen Betroffenen ist dies nicht bewusst, deshalb leisten hier besonders Mitarbeiter:innen der Frauenhäuser und Opferschutzeinrichtungen wichtige Aufklärungsarbeit. Rechtlich gesehen ist psychische Gewalt in Österreich noch immer nur bedingt strafbar, etwa wenn mit Mord oder körperlicher Gewalt gedroht wird.
Österreich hat sich mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention also dazu bekannt, Mindeststandards zum Schutz von Frauen umzusetzen. Wo stehen wir hier?
Historisch gesehen hat Österreich eine Vorreiterrolle im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen. Wir haben eines der ältesten Gewaltschutzgesetze, es stammt aus dem Jahr 1997 und wurde seither immer wieder novelliert. Opferrechte wurden ausgebaut. Leider scheitert es nach wie vor an der praktischen Umsetzung. Das hat auch die unabhängige Expert:innengruppe des Europarates, die für das Monitoring der Umsetzung der Istanbul-Konvention zuständig ist, kritisiert. Ihr Bericht stellt fest, dass die Strafverfolgung nicht effizient genug und aufgrund der Gegebenheiten nicht umfassend durchsetzbar ist. Viele Verfahren über häusliche Gewalt werden frühzeitig eingestellt. Genau das ist ein verheerendes Signal: Das Opfer verliert das Vertrauen in die Justiz, der Täter weiß, dass er mit seinem Verhalten durchkommt. Eine effiziente Strafverfolgung würde auch beinhalten, dass Behörden von sich aus Beweise sammeln, also dezidiert danach fragen und sie dokumentieren.
Wie sieht die Strafverfolgung denn in der Praxis aus?
Derzeit wird diese Verantwortung oft auf die Opfer überwälzt. Wir müssen uns die Situation während eines Polizeieinsatzes vorstellen. Meistens passieren diese mitten in der Nacht, wenn sich gerade eine Gewalttat zugetragen hat. Die Lage ist sehr hektisch, von Angst und Aggression geprägt. Die betroffene Frau wird zur Polizei gebracht. Bis zur Einvernahme schwirren im Kopf quälende Fragen herum, etwa „Was passiert, wenn er nicht festgenommen wird?“. Bei der Einvernahme werden die Frauen nicht selten nur zum aktuellen Vorfall befragt, die vorangegangene erlebte Gewalt geht oftmals unter. Wenn die Polizei also nicht explizit nach vorherigen Gewalterfahrungen, nach etwaigen Krankenhausaufenthalten, Verletzungsfotos, Zeug:innen und dergleichen fragt, hat das zur Folge, dass das Verfahren mangels Nachweisbarkeit eingestellt wird. Weil die benötigten Beweise nicht genau erfragt werden.
Auch die Polizeibeamt:innen müssten also für das Thema sensibilisiert werden?
Unbedingt. In der Justiz herrscht noch immer zu viel Unwissen über die Gewaltspirale und die Komplexität häuslicher Gewalt, nicht nur bei Staatsanwält:innen, sondern auch bei Richter:innen. Letztere haben keine Verpflichtung, sich im jeweiligen Zuständigkeitsbereich fortzubilden. Begründet wird dies mit der Bewahrung der Unabhängigkeit der Richterschaft, daher könne man sie nicht dazu verpflichten. Gleichzeitig mangelt es auch an ausreichenden Fortbildungsangeboten. Das merkt man im Gerichtsverfahren leider allzu oft bei den Entscheidungen, wenn an der Glaubwürdigkeit des Opfers gezweifelt wird – oft mit verheerenden Folgen.
Wie oft kommt denn diese Form des Victim-Blaming in der Justiz vor?
Sie ist Alltag im Gerichtssaal. Fast jeder Frau wird von vornherein eine mögliche Falschaussage unterstellt, obwohl sie unter Wahrheitspflicht aussagen muss. Ihre Motivlage wird genau erörtert und immer wieder infrage gestellt. Die Strafverteidiger:innen scheuen nicht davor zurück, mit haarsträubenden Argumenten und Unterstellungen um sich zu werfen, die wiederum vom Gericht aufgegriffen werden. Beim Familiengericht etwa wird oft sogar die Gefährdung des Kindeswohls ausgeklammert, wenn die Kinder nicht unmittelbar von der Gewalt betroffen sind und diese „nur“ miterleben.
Wie kann man dagegen vorgehen?
All dem könnte mit mehr Bewusstseinsbildung in Form von Schulungen und Fortbildungen für Richter:innen entgegengewirkt werden. Gleichzeitig muss man von Gewalt Betroffenen aus anwaltlicher Sicht empfehlen, alle Verletzungen, Drohnachrichten und Ähnliches gut zu dokumentieren – auch wenn sie noch nicht bereit sind, Anzeige zu erstatten. Dieses Beweismaterial sollte auch Freund:innen oder Vertrauenspersonen geschickt werden, damit es an mehreren Orten gespeichert ist. Das Aufnehmen und Vorspielen einer verbalen Auseinandersetzung ohne Einverständnis des Sprechenden ist strafbar, aber ein Transkript kann verwendet werden.
Wann liegt eine besondere Gefährdung einer Frau vor?
Die gefährlichste Zeit für eine Frau ist die Zeit einer Trennung, und der gefährlichste Ort ist ihr Zuhause. Das belegen auch etliche Studien. Gerade in dieser vulnerablen Zeit reden viele Männer ihren Frauen ein, dass ihnen ohnehin niemand glauben würde, sollten sie Anzeige erstatten. Deshalb besteht insgesamt auch ein großes Anzeigenhemmnis. Vor einer besonders hohen Hürde stehen Frauen mit Migrationshintergrund. Einerseits gibt es Sprachbarrieren, andererseits sind hier die Berührungsängste mit der Polizei – auch aufgrund möglicher schlechter Erfahrungen in den Herkunftsländern – besonders stark ausgeprägt.
Apropos: Nicht wenige Politiker:innen versuchen, Gewalt gegen Frauen nur im migrantischen Milieu zu verorten.
Diese Leute wechseln nur politisches Kleingeld damit und arbeiten am Problem vorbei. Unzählige Studien weltweit zeigen, dass Gewalt gegen Frauen ein globales Problem ist, unabhängig von der Herkunft und vom sozialen Milieu. In Europa haben wir aufgrund der Frauenrechtsbewegung mehr erreicht, aber noch immer stecken wir in patriarchalen Strukturen, die wir überwinden müssen. Im Gegenteil, wir erleben in den letzten Jahren einen Backlash in Sachen Frauenrechte. Noch immer ist hier Gewalt gegen Frauen Alltag. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass Frauen, die in Europa geboren und sozialisiert wurden, auf ein anderes Unterstützungssystem zurückgreifen können als geflüchtete Frauen, die noch kein Netzwerk haben. Diese sind bei einem Ausbruch aus der Gewaltspirale auf die Hilfe eines Frauenhauses angewiesen.
Was muss Ihrer Meinung nach jetzt geschehen?
Die Lösungen liegen längst auf dem Tisch. Die Mitarbeiter:innen der Gewaltschutzzentren und Frauenhäuser sind Expert:innen in diesem Fachgebiet. Jedes Jahr geben sie Berichte heraus, die Reformvorschläge beinhalten. Dazu gehört zum Beispiel die Wiedereinführung der sogenannten MARAC-Fallkonferenzen, wo mehrere Institutionen zusammenkommen, um Informationen über Risikofaktoren auszutauschen und Sicherheitsmaßnahmen für Opfer in hochriskanten Situationen zu beschließen. Es geht aber auch um die finanzielle Stärkung von Opferschutzeinrichtungen, die alle am Limit arbeiten. Ebenso gehören groß angelegte, flächendeckende Aufklärungskampagnen über das Recht auf Prozessbegleitung dazu und eine Fortbildungspflicht für Richter:innen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich. All diese Vorschläge wurden mehrfach kundgetan, es mangelt leider noch immer am politischen Willen. Meistens sitzen diese Expert:innen auch gar nicht an den Verhandlungstischen und müssen darum kämpfen, beigezogen und gehört zu werden. Das aktuelle Gewaltschutzgesetz dreht nur an einzelnen Schrauben, statt sich dem Gesamtbild zu widmen. Dadurch verkommt es zur Farce, während die Zahl der Femizide steigt.
Sonja Aziz ist Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Familienrecht. Sie hält Vorträge und bietet Fortbildungen zum Thema Gewalt gegen Frauen so wie zu familienrechtlichen Fragestellungen. Sie war Mitglied des parlamentarischen Dialogs „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen” und beriet das Frauen*Volksbegehren 2018 hinsichtlich der Gewaltschutzforderung.