Die Genozid-Leugnung als Staatsdoktrin

Der Versöhnungsprozess zwischen Serbien und Bosnien und Herzegowina nach dem Genozid muss auf Wahrheit und wissenschaftlich erwiesenen Fakten beruhen – wovon der Diskurs in Serbien sehr weit entfernt ist, wie der Politikwissenschafter Esmir Ćatić in seinem Essay feststellt.

Einen Tag nach dem Tod von Hatidža Mehmedović, Überlebende des Völkermordes von Srebrenica und ehemalige Präsidentin der Vereinigung Mütter von Srebrenica, twitterte die Vizepräsidentin der Nationalversammlung der Republik Serbien, Vjerica Radeta, an jenem 23. Juli 2018: „Ich lese Hatidža Mehmetović [sic!] aus der Vereinigung der Geschäftsfrauen von Srebrenica ist gestorben. Wer wird sie nun begraben. Der Ehemann oder die Söhne?!“ Welches Adjektiv kann den besagten Tweet in seiner gesamten niederträchtigen Grausamkeit erfassen, zeitgleich jedoch solch einer perfiden Geisteshaltung seiner Verfasserin gerecht werden? Gibt es denn überhaupt eines, angesichts der Tatsache, dass Hatidžas Ehemann Abdulah und ihre beiden Söhne, Azmir (21) und Almir (18), beim Genozid ermordet und ihre Körperteile anschließend in mehreren Massengräbern verscharrt wurden? Wie ist es möglich, dass eine solche Äußerung einer hohen Staatsbeamtin in einem Land, das die Mitgliedschaft in der EU anstrebt – einer Union, die sich das Credo In Vielfalt geeint an die Fahne geheftet hat –, ohne jegliche Konsequenzen bleibt?

„Muslimani, muslimani,
došli su vam crni dani,
nema Tita, da vas brani!“

Dieser Slogan – „Oh Muslime, Muslime, eure schwarzen Tage sind nun gekommen, es gibt keinen Tito, um euch zu verteidigen“ – wurde nur wenige Tage nach dem Tod des diktatorischen jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito im Mai 1980 als Graffiti auf Mauern im Sandschak gesprüht. Er war bloß die Ankündigung dessen, was nur eineinhalb Jahrzehnte später als das schlimmste Verbrechen in Europa seit den Schrecken des Holocaust in die Geschichte eingehen sollte. Die Botschaft war unmissverständlich.

Bereits im Oktober 1991 sendete der politische Anführer der aufständischen bosnischen Serben, Radovan Karadžić, vom Rednerpult des Parlaments der Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina die gleiche Botschaft aus. Er kündigte die Vernichtung der muslimischen Bosniaken an, sollte sich die legal gewählte bosnisch-herzegowinische Legislative nicht der großserbischen Politik des Präsidenten der Republik Serbien, Slobodan Milošević, beugen: „Glaubt nicht, dass ihr Bosnien und Herzegowina nicht in die Hölle und das muslimische Volk vielleicht nicht in die Vernichtung führen werdet! Denn das muslimische Volk wird sich nicht wehren können, sollte es hier zum Krieg kommen!“

Das Ergebnis des großserbischen Vernichtungskrieges gegen die unabhängige, souveräne und international anerkannte Republik Bosnien und Herzegowina, ein vollwertiges Mitglied der Vereinten Nationen, war mehr als ernüchternd. Zwei Drittel des bosnischen Staates wurden militärisch besetzt, wobei zwei Millionen Menschen – was der Hälfte der gesamten Bevölkerung entsprach – bei ethnischen Säuberungen vertrieben und rund 100.000 bosnische Bürger:innen getötet wurden. Knapp unter 70 Prozent machten dabei die vorwiegend muslimischen Bosniak:innen aus. Die Umsetzung des großserbischen ideologischen Plans, die Errichtung eines „ethnisch reinen“ serbischen Territoriums, der sogenannten Republika Srpska, das anschließend einem Großserbien hätte einverleibt werden sollen, hatte nicht nur ethnische Säuberungen und den Genozid zur Folge, sondern auch mutwillige Zerstörungen nationaler und religiöser Stätten und Denkmäler. Die Islamische Gemeinschaft Bosnien und Herzegowinas hat insgesamt über 1.311 islamische Objekte dokumentiert, die im Krieg zerstört wurden. Bei den als Mittel der Kriegsführung eingesetzten Massenvergewaltigungen wurden schätzungsweise über 60.000 Frauen systematisch miss- braucht. In Vergewaltigungslagern festgehalten, wurden viele dieser Frauen erst dann entlassen, nachdem Schwangerschaften nicht mehr abgebrochen werden konnten. Die Errichtung von Konzentrationslagern war in Anbetracht der von Belgrad aus orchestrierten methodischen Vernichtungsideologie bloß eine Frage der Zeit.

Die Jugoslawische Armee, seinerzeit die viertstärkste Militärmacht Europas, und die aufständischen bosnischen Serben gingen bei der Okkupation der Republik Bosnien und Herzegowina systematisch vor. In jeder Gemeinde, die sie militärisch besetzten, wurden die bei den ersten demokratischen Parlamentswahlen 1990 legal gewählten Staatsvertreter:innen nichtserbischer ethnischer Zugehörigkeit aus den Ämtern gejagt und viele von ihnen ermordet. Anschließend wurde die bosniakische und kroatische Bevölkerung verfolgt, ethnisch gesäubert, enteignet und ermordet. Moderate Serben, die die Ideologie der ethnischen Segregation ablehnten, wurden als „Volksverräter“ gleichfalls zur Zielscheibe. Die zwei bekanntesten Beispiele hierfür sind Srđan Aleksić aus Trebinje und Sekul Stanić aus Foča. Aleksić wurde im Januar 1993 von vier aufständischen Serben zu Tode geprügelt, nachdem er bei der Drangsalierung des Bosniaken Alen Glavović dazwischengegangen war. Stanić, der aus Protest gegen die Vernichtung der Bosniaken Fočas sein eigenes Haus anzündete, half den noch wenigen überlebenden Bosniaken auf das von der regulären Armee der Republik Bosnien und Herzegowina kontrollierte freie Gebiet zu flüchten. Dafür wurde er am 17. Dezember 1993 im Dorf Miljevina bei Foča von den Aufständischen ermordet. Die beiden Beispiele zeigen deutlich, wie gefährdet die Moderaten aus der nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe sind, in deren Namen die Genozidtäter ihre Kampagne durchführen. Denn sie sind die Ersten, die den Genozid beenden beziehungsweise kritische Standpunkte bezüglich der ausgestrahlten und gelebten Hasspropaganda, verbal oder durch ihr Handeln, äußern und somit verbreiten könnten. Dadurch werden sie für die Genozidtäter zur Zielscheibe, denn sie gefährden die von Gregory H. Stanton als fünfte Stufe des Völkermordes bezeichnete Polarisierung zwischen den Gruppen, die die Täter voneinander trennen wollen. Diese Stufe hieß bei Radovan Karadžić humane Umsiedlung. Wie sie in die Tat umgesetzt wurde, illustrierte er bereits 1992 unverhohlen in Bijeljina und Prijedor.

Ein Massaker von vielen

Alleine in Bijeljina in Ostbosnien wurden in den ersten beiden Apriltagen 1992 fast 80 Zivilist:innen nichtserbischer ethnischer Zugehörigkeit systematisch ermordet. Bosniakisches Eigentum wurde geplündert und vernichtet, es folgten Massenvergewaltigungen. Im Zuge der ethnischen Säuberungen an den vorwiegend muslimischen Bosniak:innen Bijeljinas wurden neun Inhaftierungslager installiert, in denen gefoltert, gemordet und vergewaltigt wurde. Das Vorgehen der serbischen Besatzer wurde von Professor Eric D. Weitz, renommierter Historiker am City College of New York, in seiner Publikation A Century of Genocide: Utopias of Race and Nation als Genozid eingestuft. Die Massaker von Bijeljina wurden vorwiegend von der „Serbischen Freiwilligengarde“ verübt, einer Sondereinheit der Jugoslawischen Armee, die von Belgrad bis heute hartnäckig als „paramilitärische Einheit“ bezeichnet wird, um jegliche tatsächliche Involvierung Jugoslawiens (damals bestehend aus Serbien und Montenegro) im Krieg gegen die Republik Bosnien und Herzegowina zu vertuschen. Diese Sondereinheit der Jugoslawischen Armee wurde von Željko Ražnatović Arkan angeführt und unterstand direkt Milošević. Das berühmte Foto des US-amerikanischen Fotojournalisten Ron Haviv, auf dem ein Soldat der Serbischen Freiwilligengarde dem Kopf der kurz zuvor erschossenen bosniakischen Zivilistin Ajša Šabanović einen Fußtritt verpasst, spiegelt schonungslos die konsequente Umsetzung des genozidalen Plans wider. Im weiteren Verlauf der Vernichtungswut wurden alle fünf städtischen Moscheen zerstört. Jede Erinnerung an muslimisches Leben sollte endgültig ausgelöscht werden. Laut der letzten bosnischen Volkszählung aus dem Jahr 2013 bilden die Bosniak:innen nur noch knapp zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung der Gemeinde Bijeljina. Vor dem Krieg waren es über 30 Prozent gewesen. Heute wird im vorwiegend von den bosnischen Serb:innen bewohnten Bijeljina der 1. April als Befreiungstag gefeiert. Zu „Ehren“ jener Soldaten, die die Massaker an der bosniakischen Zivilbevölkerung Bijeljinas ausgeführt hatten, trägt eine Straße heute den Namen der Serbischen Freiwilligengarde.

Weisse Bänder

Die nordwestlich gelegene bosnische Stadt Prijedor ist ein weiteres monströses Beispiel einer konsequent in die Tat umgesetzten Politik des Hasses. Als diese Gemeinde von aufständischen bosnischen Serben gewaltsam besetzt und legal gewählte Amtsträger:innen von ihnen vertrieben oder ermordet wurden, begann auch dort die Kampagne der ethnischen Säuberung und Verfolgung, die Prijedor zu einem der schlimmsten Kriegsverbrecherschauplätzen des gesamten Krieges machte. Nichtserb:innen – aber auch Serb:innen, die sich gegen die Politik der nationalen und ethnischen Segregation stellten – wurden zunächst von ihren Arbeitsplätzen entlassen und dann verfolgt. Am 31. Mai 1992 erteilten die vom benachbarten Jugoslawien und von den aufständischen bosnischen Serb:innen installierten Gewaltherrscher den Befehl, dass alle Nichtserb:innen ihre Wohnungen und Häuser mit weißen Tüchern zu markieren hatten. Auf allen öffentlichen Plätzen Prijedors mussten Bosniak:innen und Kroat:innen auf dem Oberarm ein weißes Band tragen. Die KZs Omarska, Trnopolje und Keraterm wurden errichtet, in denen Tausende Zivilist:innen inhaftiert, gefoltert, vergewaltigt und exekutiert wurden.

Am 21. August 1992 wurden über 1.200 Inhaftierte des KZs Trnopolje auf das von der regulären bosnischen Armee kontrollierte Gebiet transportiert. Als der Konvoi das in Zentralbosnien gelegene Bergmassiv Vlašić erreichte, wurden rund 250 Menschen von der sogenannten Interventionseinheit der Aufständischen aussortiert und vom Rest der Gruppe separiert, der daraufhin seine Fahrt nach Travnik fortsetzen durfte. Gleich vor Ort wurden die Separierten ihres letzten gebliebenen Guts beraubt und zur fünfzehn Minuten entfernten Schlucht Korićanske stijene gebracht. In Dreiergruppen wurden sie aus den Bussen herausgezerrt und gezwungen, sich am Rand der über 100 Meter tiefen Schlucht niederzuknien. Dort wurden sie anschließend nacheinander erschossen, woraufhin ihre Körper in die Tiefe der Schlucht fielen. Bevor die sogenannte Interventionseinheit der aufständischen bosnischen Serben den Tatort verließ, schossen die Soldaten auf die in der Tiefe aufgestapelten Leichen und warfen anschließend Handgranaten hinunter. Medo Sivac, zum Zeitpunkt dieses Kriegsverbrechens 18 Jahre alt, konnte sich retten, indem er vor dem für ihn beabsichtigten Kopfschuss in den Abgrund sprang. Der Aufprall wurde von den Bäumen abgebremst, sodass er – wenn auch schwer verletzt – überlebte. Er war einer von insgesamt zwölf Überlebenden des Massakers von Korićanske stijene und sagte als Zeuge vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal aus.

In Prijedor wurden über 3.300 Menschen durch die Jugoslawische Armee und die aufständischen bosnischen Serben getötet, darunter mehr als 100 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Bisher wurden in der Prijedorer Gegend rund 50 Massengräber entdeckt. Allein aus dem im Jahr 2013 entdeckten Massengrab Tomašica wurden bisher beinahe 1.000 Leichen exhumiert.

Der geleugnete Genozid

Den Zenit der Errichtung des national, ethnisch und religiös homogenen ideologischen Projekts Republika Srpska bildet eindeutig der Genozid von Srebrenica. Unter der Aufsicht des dort stationierten niederländischen UN-Bataillons „Dutchbat“ ermordeten die vom jugoslawischen General Ratko Mladić angeführten Truppen der aufständischen bosnischen Serben über 8.000 bosniakische Knaben und Männer. Das Ausmaß des Genozids in dieser „UN-Schutzzone“ wird gewiss deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass jeder zwölfte im gesamten Krieg getötete Mensch allein in Srebrenica ermordet wurde – innerhalb nur weniger Tage. Im Hinblick auf die explizit bosniakischen Opfer war es jeder neunte!

Kein Genozid wurde je so hoch belohnt wie jener von Bosnien und Herzegowina. Nach dem Völkermord von Srebrenica wurde der Republik Bosnien und Herzegowina von der Kontaktgruppe – bestehend aus den USA, der Russischen Föderation, Großbritannien und Frankreich – in Dayton eine Verfassung oktroyiert, die die durch ethnische Säuberungen und Genozid erreichten Gebietszugewinne und ethnische Segregation legalisierte. Zeitgleich inszenierte die Kontaktgruppe Milošević als Friedensmacher. Das in Srebrenica vollendete ideologische Projekt Republika Srpska wurde als eine von zwei Entitäten des Staates Bosnien und Herzegowina anerkannt, womit die Genozidtäter mit 49 Prozent des eroberten Staatsterritoriums belohnt wurden.

Heute noch entzündet sich die politische Gegenwart des Balkans am Festhalten der regierenden Eliten Serbiens an einer Ideologie, die zum schlimmsten Verbrechen in Europa seit dem Holocaust geführt hat. Wer am 24. März 2021 die Gedenkfeier zum Jahrestag des Beginns der NATO-Intervention von 1999 gegen das Regime von Milošević im serbischen staatlichen Fernsehen verfolgte, konnte angesichts der von Verschwörungstheorien durchzogenen völkischen Pathetik nur staunen – oder sich bestenfalls fremdschämen. Nicht nur wurde sie den serbischen zivilen Opfern, die es während der Intervention leider gab, nicht gerecht, sie deutete nicht einmal ansatzweise die Ursache an, die überhaupt dazu geführt hatte: die Kriegsverbrechen der jugoslawischen Staatsführung gegen die albanische Zivilbevölkerung Kosovos. Dennoch ist es nicht erstaunlich. Der amtierende serbische Staatspräsident heißt Aleksandar Vučić. Das ist jener Mann, der im Juli 1995, während der Massaker in Srebrenica, vom Rednerpult des serbischen Parlaments aus verkündete, dass sie für jeden getöteten Serben hundert Muslime töten würden, sollte die NATO gegen die serbi- schen Militäreinheiten intervenieren. Das ist jener Mann, der die Massenmedien in Serbien zur Gänze kontrolliert und dessen Serbische Fortschrittspartei bei den Parlamentswahlen 2020 mehr als 60 Prozent der Stimmen gewann. Das ist jener Mann, dessen politischer Ziehvater Vojislav Šešelj heißt, der Parteigründer und -vorsitzende der rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei, dessen Mitglied Vjerica Radeta ist, die sich nach dem Tod einer Genozidüberlebenden in einem Tweet fragt, wer diese nun begraben wird, die ermordeten Söhne oder doch der Ehemann.

Daher überrascht es auch nicht, dass in der „Deklaration über Srebrenica“, die die serbische Nationalversammlung auf Druck des Westens 2010 verabschiedete, die Verbrechen gegen die bosniakische Bevölkerung zwar verurteilt wurden, das Wort Genozid jedoch nirgendwo vorkam. In jener Deklaration, die sich somit ad absurdum führte, verlangte die serbische Nationalversammlung allerdings nach einer Entschuldigung für die serbischen Opfer. Sieht so Reue aus?

Jedes Mal, wenn ein serbischer Kriegsverbrecher vom Haager Tribunal verurteilt wurde, interpretierten dies die serbische Regierung, die dortige akademische Elite und die Massenmedien bewusst und medienwirksam als eine Verurteilung des gesamten serbischen Volkes. Das Gleiche geschieht auch, wenn jemand öffentlich über den Genozid spricht und dessen Leugnung anprangert. Damit soll bei der serbischen Bevölkerung das Gefühl einer angeblich zugewiesenen Kollektivschuld suggeriert werden, die „die böse Welt“ dem gesamten serbischen Volk aufbürden wolle. Der Zweck der Verurteilungen durch das Haager Tribunal diene aus ihrer Sicht bloß einer Absicht: das serbische Volk auf immer und ewig historisch zu dämonisieren. In dieses Narrativ der Genozidleugnung wurde sogar ein Kampfbegriff eingeführt: „genozidale Völker“ [sic!]. Hinter dieser völlig absurden und sinnentleerten Begriffsschöpfung der serbischen akademischen Elite – die wie ein Mantra massenmedial wiederholt wird, sobald vom Genozid in Bosnien und Herzegowina die Rede ist – versteckt sich bloß der verabscheuungswürdige Versuch, die Verurteilungen der Verbrechen des Milošević-Regimes mit einer Verurteilung des gesamten serbischen Volkes gleichzusetzen, um einerseits die Serb:innen für die Kontinuität einer solchen Politik zu vereinnahmen und andererseits jeglichen Diskurs über Völkermord im Keim zu ersticken. Die wenigen Gegenstimmen, wie jene von Janja Beč Neumann, Čedomir Jovanović oder Sonja Biserko, werden einem regelrechten medialen Lynch ausgesetzt und als „Nestbeschmutzer:innen“ und „Volksverräter:innen“ diffamiert. Als Großbritannien 2015, kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag des Genozids von Srebrenica, vor dem Sicherheitsrat der UNO eine Resolution einbrachte, die den Völkermord verurteilen sollte, betrieb die serbische Regierung Lobbyarbeit, um Russland zu einem Veto zu bewegen. Dieses Veto kam dann auch. Serbische Massenmedien tobten mit Schlagzeilen wie: „Die Serben sind ein genozidales Volk [sic!] und Serbien muss das zugeben – das ist die neueste monströse Resolution über Srebrenica“.

Der damalige serbische Präsident Tomislav Nikolić kommentierte am 29. Juni 2015 den Resolutionsentwurf mit den Worten: „Die Ungerechtigkeit, mit der den Serben das Recht auf die Ehrung der eigenen Opfer verwehrt wird, ist beängstigend, genauso wie die Versuche, das serbische Volk als genozidal [sic!] zu brandmarken.“ In Wahrheit hatte der britische Resolutionsentwurf mit keinem einzigen Wort Serbien oder das serbische Volk erwähnt.

Kein Volk der Welt darf als eine homogene Interessenseinheit gedacht werden. Jeder einzelne Mensch ist in seiner Individualität, Persönlichkeit und Eigenständigkeit viel zu multidimensional, als dass er sich in den Kontext einer angeblichen Kollektivschuld für die Verbrechen eines Regimes hinuntersubtrahieren lassen könnte. Eine Kollektivschuld gibt es nicht, sehr wohl aber eine universelle Verantwortung, den Genozid aufzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass er nie wieder verübt wird! Es muss daher festgehalten werden, dass es keine „genozidalen Völker“ gibt oder geben kann, sehr wohl aber genozidale Regime, auch wenn die Machtelite Serbiens anders darüber denkt.

Eine friedliche Zukunft wird nur im absoluten Bewusstsein über die Vergangenheit gestaltbar sein, damit sich die Verbrechen gegen keine erdenkliche Gruppe wiederholen. Der Versöhnungsprozess muss auf Wahrheit und wissenschaftlich erwiesenen Fakten beruhen. Es gibt keine Alternative! In diesem Kontext ist es essenziell, den begangenen Genozid in Erinnerung zu halten und aufzuarbeiten. Zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Gelegenheit müssen die ideologischen Achsen, die den Völkermord leugnen, konfrontiert und enttarnt werden. In dem Moment, in dem man sich entweder von den Täter:innen selbst oder ihren ideologischen Verfechter:innen mundtot machen lässt, wird man zum Glied in der Genozidkette und macht sich zum Komplizen, den Völkermord durch Leugnung zu vollenden. Die Erinnerungskultur ist kein Selbstzweck, sondern ein Mahninstrument, um im Idealfall Lehren aus der Geschichte zu ziehen, damit solche niederträchtigen Verbrechen nie wieder verübt werden. Ideologischer Extremismus verschwindet nie von allein. Er muss aktiv und mit legalen demokratischen Mitteln friedlich, argumentativ und aufklärend bekämpft werden. Spätestens dann, wenn Hass und Hetze, die leicht in Dehumanisierung abdriften können, gegen bestimmte Gruppen zusehends an gesellschaftlicher Akzeptanz gewinnen. Die liberaldemokratische Verpflichtung, offen und wohlwollend gegenüber dem anderen zu sein, drückt Bertrand Russell treffend aus, wenn er meint: „Ideal wäre ein Staat, in dem jeder alle Freiheiten hätte, ausgenommen die Freiheit, in die Freiheit der anderen einzugreifen.“

Der Prozess des Genozids dauert noch an

Die (institutionelle) Leugnung des Genozids ist die letzte Phase dieses Verbrechens, die immer nach der teilweisen oder gänzlichen Vernichtung einer Gruppe kommt. Die proaktiv gelebte Haltung der heutigen serbischen politischen und akademischen Elite, die von ideologischen Trabanten der Genozidtäter dominiert wird, ist lediglich die Kontinuität einer Politik und Ideologie, die zum Völkermord in Bosnien und Herzegowina geführt hat. Der Prozess des Genozids dauert immer noch an. Wir befinden uns bloß in seiner letzten Phase. Serbien ist sehr weit davon entfernt, die verbrecherische Vergangenheit des Milošević-Regimes aufzuarbeiten. Ganz im Gegenteil. Kriegsverbrecher werden als Märtyrer und Helden gefeiert, während der Genozid hartnäckig geleugnet wird. In so einem politischen Umfeld ist es daher möglich, dass der damalige Außenminister Ivica Dačić 2019 im bosnischen Banja Luka bei einer Wahlveranstaltung in einer Stadt, in der alle 16 Moscheen dem Erdboden gleichgemacht und deren muslimische Bevölkerung auf knapp vier Prozent dezimiert wurde, folgenlos in die Menge plärren kann: „Bosnien war und wird nie muslimisch sein, wie es die Bosniaken wollen!“ Der serbische Innenminister Aleksandar Vulin sehnt in seinem irredentistischen Wahn im Jahr 2021 ein Großserbien herbei. Angesichts all dessen ist auch klar, weshalb die Vizepräsidentin der serbischen Nationalversammlung nach dem Tod einer Genozidüberlebenden einen Tweet abfeuern kann, in dem sie sich süffisant fragt, wer sie nun begraben wird, die ermordeten Söhne oder der Ehemann, und dies ohne jegliche Konsequenzen bleibt.

Schlussendlich kommt man nicht um die Frage umhin, auf welchen Prozentsatz der Bevölkerungsanteil der Bosniak:innen noch nach unten dezimiert werden müsste, damit die serbische Machtelite ihre exzessive Islamophobie endgültig überwinden kann. Daher bleibt am Ende stets die triste Hoffnung, dass der Prozess der Katharsis in Serbien irgendwann doch beginnen wird. Ob die EU ihrer Tradition der Appeasement-Politik treu bleiben oder sich letztendlich an Serbiens Genozidleugnung doch stoßen und dadurch zu ihrem Credo In Vielfalt geeint zurückfinden wird, wird sich gewiss noch zeigen müssen.
Denn wer den Genozid leugnet, ist bereit ihn zu wiederholen.

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