Psychotherapie unter Musliminnen und Muslimen

„Krebs wird sehr ernst genommen, bei Depressionen aber kommt das Argument, dass der Glaube schwach ist.“

Hatice Budak

Psychotherapie wird unter Musliminnen und Muslimen zum Trend. Endlich, sagt Hatice Budak – zu lange galt das Thema psychische Gesundheit in vielen Familien als Tabu. Die Bremer Psychologin über die Kraft des Redens, den Schuldkomplex junger Muslim:innen und den Reichtum der Zweisprachigkeit.

Interview: Nour Khelifi Fotos: Rabia Polat

In den letzten Jahren hat das Bewusstsein rund um psychische Gesundheit – oder englisch: Mental Health – in der muslimischen Community stark zugenommen. Woran liegt das?

Es gibt zurzeit ganz allgemein ein sehr hohes Interesse an Mental Health. Vie­les in unserer Generation dreht sich um psychische Gesundheit und Selbstoptimie­rung. Ich denke, immer mehr Musliminnen und Muslime stoßen langsam an ihre Grenzen – es gibt Dinge oder Strukturen, mit denen sie nicht einverstanden sind und unter denen sie leiden. Der Großteil hat sich bisher nicht getraut, darüber zu reden, weil es weder Anerkennung noch eine Plattform für dieses Thema gegeben hat. Je mehr Leute jedoch darüber reden, desto mehr sinkt die Hemmschwelle bei anderen, sich ebenso zu öffnen. Man kann sich sehr wohl verstanden fühlen durch die Verletzlichkeit des anderen. Diese kollektive Öffnung schafft im Moment eine sehr gute Basis und viel Mut für einen offenen Umgang rund um Mental Health in der muslimischen Community.

Wie wird Ihre Arbeit als Psychologin allgemein von den Muslim:innen aufgefasst?

Ich hätte selbst nicht gedacht, wie groß der Bedarf ist. Die Menschen sind dankbar dafür, dass es eine Möglichkeit gibt, diese Gespräche zu führen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Nachfrage ist groß, das Angebot leider noch nicht. Und Muslim:innen suchen tendenziell eher nach muslimischen Psycholog:innen und Therapeut:innen. Ich biete aufgrund der hohen Nachfrage auch Onlineberatun­gen via Skype an. Gerade die Onlineberatung öffnet neue Türen, wenn es um ein so stark tabuisiertes Thema geht, da die Hemmschwelle niedriger ist.


Als sie während des Studiums eine Panikstörung ent­wickelte, hieß es, sie sei von einem Dschinn besessen. Hatice Budak bezeichnet ihre anschließende Psychotherapie als Wendepunkt in ihrem Leben.

Warum suchen Muslim:innen eher muslimische Therapeut:innen?

Man wird im Alltag als Muslim:in von der Mehrheitsgesellschaft oft genug nicht richtig verstanden. Und gerade wenn es um sensible persönliche Themen und Verletzlichkeiten geht, möchte man nicht auch noch zusätzlich bestimmte Dinge er­ klären oder sich für sie rechtfertigen müssen – nur weil man muslimisch oder mig­rantisch ist. In Anbetracht der emotionalen Entblößung, die eine Therapie nun einmal darstellt, kann das erst recht zu Verletzungen führen. Meine Klientinnen empfinden es als angenehmer, wenn sie jemanden vor sich sitzen haben, der diese Gefüge kennt. Jemanden, der vertraut ist mit Themen wie Kopftuchtragen oder kul­turell bedingten Familiendynamiken.

Ist dieses kulturelle Erfahrungswissen tatsächlich notwendig, um muslimische Patient:innen zu behandeln?

Alle Therapeut:innen müssen sich ständig selbst reflektieren und sich fragen, was sie in die Therapie mitnehmen, denn wir sind unser eigenes Werkzeug. Es passiert schnell, dass man eigene Vorurteile oder Ansichten auf das Gegenüber projiziert. Deswegen sollte eigentlich auch eine nichtmuslimische Therapeut:in durchaus in der Lage sein, muslimische Menschen zu behandeln und professionell mit ihnen umzugehen.

Nicht selten werden psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen von Außenstehenden heruntergespielt oder auf einen „schwachen“ Glauben (Iman) zurückgeführt. Hinter manchen Erkrankungen werden externe Einflüsse wie der „böse Blick“ (Nazar) oder „böse Geister“ (Dschinn) vermutet. Woher kommen diese Stigmatisierungen?

Das sind Erklärungsversuche von Menschen, die selbst nicht betroffen sind. Das Leid wird relativiert, obwohl es sehr komplex ist. Betroffene wissen, dass der Grund für ihre Probleme nicht im eigenen Glauben, sondern woanders liegt. Psychi­schen Problemen wird in der muslimischen Community kein Krankheitsgehalt beigemessen, sage ich mal ganz vorsichtig. Weil es oft keine sichtbaren Symptome gibt, werden sie nicht als legitime Krankheiten gesehen. Krebs wird zum Beispiel sehr ernst genommen, bei Depressionen aber kommt das Argument, dass der Glaube schwach ist. Leute urteilen sehr schnell. Man hört dann, dass man als Muslim:in niemals die Hoffnung verlieren oder suizidale Gedanken pflegen darf. Solche Argumente ersticken jede Bereitschaft für Gespräche oder für Aufklärung im Keim und die Betroffenen gehen mit der Bestätigung aus solchen Gesprächen heraus, dass mit ihrem Glauben etwas nicht stimmt. Der Glaube ist eine wundervolle Ressource, die durch derartige Verdrehungen nicht getrübt werden sollte.

Haben Sie selbst solche Erfahrungen gemacht?

Während meines Studiums habe ich eine Panikstörung entwickelt. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen und mit all die­sen Hürden und Strukturen zu kämpfen. Zum einen hast du die Familie, die nichts damit anfangen kann, dass du Panikattacken hast. Das verüble ich auch keinem, weil es für außenstehende Personen nicht schön aussieht, wenn du um Luft ringst und am ganzen Körper bebst und zitterst. Mein Vater hat dann viel Koran rezitiert, wenn ich eine Attacke hatte. Da sie keine Erklärung für meinen Zustand hatten, haben sie mich zu einem Hodscha [Imam, Anm.] in der Türkei gebracht, damit die­ser herausfinden kann, was mit mir los ist. Dort habe ich die Diagnose bekommen, dass ich besessen sei. Ich wusste, dass es nicht an Dschinn liegt, dennoch habe ich mitgemacht, weil ich keine Kraft hatte meine Situation zu erklären. Ich war ja vom Fach und konnte meine Störung entsprechend einordnen (lacht). Ich habe die Prozedur über mich ergehen lassen und dann vorgetäuscht, dass es mir besser geht, damit es meinen Eltern besser geht. Später habe ich das Problem selbst in die Hand genom­men und bin zu einem Therapeuten gegangen, um mir die Hilfe zu holen, die ich ge­braucht habe. Auch wenn ich hier und da meine Rückfälle hatte, war diese Zeit mein persönlicher Wendepunkt.

Mit welchen psychischen Problemen haben jüngere Muslim:innen zu kämpfen?

Sie sprechen ihre Probleme und Schwächen gar nicht an. Gerade der Schuld­komplex in der Community ist sehr groß. Man fühlt sich verantwortlich für das Unwohlsein und die Disharmonien, die zu Hause entstehen, wenn man etwas infrage stellt oder aus der Reihe tanzt. Es fällt diesen Menschen schwer, ihre eigenen Ziele zu verfolgen und das eigene Leben ein bisschen selbstbestimmter zu führen. Dieser kollektivistische Gedanke ist sehr zentral: „Ich muss mich für meine Familie und Community aufopfern.“ „Ich muss das tun, was meine Eltern von mir erwarten.“ Die Meinung anderer wird als sehr wichtig empfunden. Sowas nimmt den Menschen ihre innere Stimme weg und hindert sie daran, diese zu kultivieren. Gerade wenn man den Bezug zu sich selbst verloren hat und dann belastende Ereignisse passieren, fehlt der innere Pfad, an dem man sich orientieren kann, weil man sich immer nur an anderen und deren Meinungen orientiert hat. So entstehen Identitätskrisen. Diese Menschen brauchen Hilfe und finden so unter anderem zu mir. Meine Klient­innen sind alle weiblich und muslimisch. Die überwiegende Mehrheit davon ist migrantisch. Ich freue mich immens, wenn ich diesen Frauen helfen kann. Dieses Muster gibt mir aber dennoch zu denken.

Sie bieten Ihre Therapiestunden sowohl auf Deutsch als auch auf Türkisch an. Sind Unterschiede bemerkbar durch die Zweisprachigkeit?

Sprache ist sehr wichtig, besonders wenn man mehrsprachig ist. In meinen Sessions wechseln meine Patientinnen und ich zwischen den beiden Sprachen, eben weil manche Gefühle im Türkischen besser ausgedrückt werden können. Deutsch hilft meist, wenn man strukturiert reden möchte, ins Türkische rutschen die meis­ten, wenn das Thema emotional aufgeladen ist. Das ist der Reichtum, der mit einer Zweisprachigkeit einhergeht. Ich spiegle auch sehr gerne, damit sich mein Gegenüber verstanden und wohl fühlt. Je nachdem welche Sprache oder welches Sprach­niveau vorliegt, passe ich mich diesem Level an, damit die Menschen mich auch verstehen können. Niemandem ist geholfen, wenn man nur fachsimpelt. Es ist sehr wichtig, sich an die Lebensrealität des Gegenübers anzupassen..

Hatice Budak ist Psychologin (klinische Psychologie und Psychotherapie) aus Bremen mit türkischen Wurzeln und macht derzeit eine postgraduale Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin. Unter der Selbstbezeichnung Hybrid Psychologist bietet sie nicht nur Onlineberatungen an, sondern betreibt auch den gleich­namigen Podcast sowie Instagram­-Kanal, wo sie psychologische Aufklärungsarbeit leistet.

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